Mit ihrer Haiku-Sammulng "Zeigerloser Weg" konnte Dagmar Tollwerth erfolgreich präsentieren,
wie sich ein ganzes Leben in knapper lyrischer Form entfalten kann.
Nicht verkürzt, sondern auf das Wesentliche reduziert – ein Gastartikel über das Haiku.
Haiku als Werkzeug das Beobachtungstalent zu schärfen
Schreiben ist für mich eine wunderbare Beschäftigung. Wenn man sich zu einem späteren Zeitpunkt den Text anschaut und erkennt, dass er gelungen ist, dann ist es ein unglaubliches Gefühl. Dieses Gefühl habe ich schon mehrfach erlebt. Sei es beim Schreiben von „Henry’s Geschichte“ für die Anthologien-Sammlung „SternenBlick – Ein Gedicht für ein Kinderlachen“, beim Schreiben meines ersten Kurzromans unter dem Pseudonym Noëlle Dukât „Die zerbrochene Rebe“ oder beim Schreiben meiner Haiku Sammlung „Zeigerloser Weg“.
Wenn ich ein Haiku zu Papier bringen möchte, dann frage ich mich, was für einen Charakter der Haiku haben sollte bzw. was ich genau zur Geltung bringen möchte. Ein Haiku kann für sich allein stehen. Ich allerdings benutze gern ein passendes Bild oder ein Foto, damit die Aussage meines Haiku unterstrichen wird.
Meines Erachtens sind die Möglichkeiten unermesslich. Gedanken, Erkenntnisse oder Gefühle können mit gut platzierten Worten in Haiku transportiert werden. Nicht gerade eine einfache Aufgabe in einem Leben, in dem viel gesprochen und das Wesentliche nicht gehört wird. So können leise Worte wieder lautstark erklingen.
Ein Haiku-Spaziergang
An dieser Stelle möchte ich mit Euch auf einen kleinen Haiku-Spaziergang durch die Welt der Wörter und durch die Geschichte gehen.
Ein Haiku ist eine althergebrachte, japanische Gedichtform. Es sind in der Regel 17 Silben in 3 Zeilen. Für mich ist ein Haiku das Große im Kleinen. Es drückt in seiner besonderen Form eine bestimmte Stimmung aus. Ein Haiku ist aber auch ein Rätsel und lässt dem Leser Raum für eigene Interpretationen und Assoziationen. Oftmals ist ein Haiku ein impressionistisches Naturgedicht. Mit den Worten von Harold G. Henderson, ein Pionier der amerikanischen Haiku-Bewegung, ist ein Haiku das, was die jeweiligen Autoren daraus machen. In meinem speziellen Fall könnte man glauben Haiku steht für
herausfordernd
anspruchsvoll
intelligent
kunstvoll und
unverwechselbar,
denn genau so waren die Damen, die ich in meinem Buch präsentiere. Sie waren Frauen, die mit Worten und Taten, mit Feder und Tusche unsere Geschichte gestaltet und die Welt verwandelt haben. Ihre Hinterlassenschaften und damit die immerwährende Präsenz über ihren Tod hinaus, machen jedem die respektvolle, vielschichtige Annäherung an ihre Leben möglich. Die Beschäftigung mit ihren Lebensgeschichten hat mich inspiriert, bereichert und geprägt. Ihre Biografien geben Anstoß zur Bewältigung des eigenen Lebens. In manchen ihrer Wünsche und Ziele habe ich mich wiederfinden können. So ist in jedem Satz dieser Sammlung ein Teil von mir eingeflossen.
Jedes Wort will etwas bedeuten
„Was mich betrifft, so bin ich über den Fortgang meines Lebens hier so verzweifelt, dass ich nicht mehr ein menschliches Wesen bin. Ich kann die Schreie all dieser Geschöpfe nicht mehr ertragen. Es bricht mir das Herz. Mein Gott! Wie ich mich nach Villeneuve sehne! Ich habe nicht all das getan, was ich getan habe, um namenlos in einem Irrenhaus zu enden, ich habe Besseres verdient...“
Worte, die durch Mark und Bein gehen und Geschichten erzählen, die von historischer Bedeutung sind.
Diese Zeilen sind aus einem Brief von Camille Claudel an ihren Bruder (Quelle: Der Kuß: Kunst und Leben der Camille Claudel, Knaus Verlag).
Dreißig Jahre ihres Lebens verbrachte die französische Bildhauerin und Malerin abgeschoben in der psychiatrischen Klinik. Die einzigartige Künstlerin der modernen Plastik wurde von Ihrer Familie wie eine Aussätzige behandelt. In vielen erschütternden Briefen an ihren Bruder Paul schilderte sie das Leben in der Anstalt und bettelte ihn an, er möge sie dort herausholen.
Tuschzeichnung von Yun Nam
Camille Claudel‘s Werke sind von einer beeindruckenden Schönheit. Ihre Plastik „Der Walzer“ war unter anderem die Inspiration zu meinem Haiku:
Der letzte Walzer,
getanzt im wehenden Tuch,
die Musik verstummt.
Hildegard Knef: Wer kennt nicht ihr selbstironisches Erkennungslied »Für mich soll’s rote Rosen regnen« oder ihre Autobiographie »Der geschenkte Gaul«, die übrigens in siebzehn Sprachen übersetzt
wurde. Mein Haiku über Hildegard Knef lautet:
Tuschzeichnung von Yun Nam
Die Rose, fast welk,
hängt dem Gaul aus dem Munde,
er taumelt, stolpert.
Der genaue Blick ins Leben
Wie wichtig der Beitrag des Gemeinschaftsprojekts „SternenBlick“ ist, können wir mit einem genauen Blick ins Leben feststellen. Ein Kind, das
am Straßenrand sitzt und betteln muss. Ein entbehrungsreiches Leben zwingt es dazu. In welche Farbe kann man sich die Zukunft dieses Kindes vorstellen? Es kauert auf dem Boden und streckt die
offene Hand nach oben. Dabei fällt mir dieser Haiku ein:
Der Blick fällt runter,
denn der Himmel hat seine
Farbe verloren.
Es sind Augenblicke, in denen beim Hinsehen alles klarer wird bzw. Momente, die sich genau dann auszudehnen scheinen. Wie viele unterschiedliche Leben hätten wir führen können, wenn wir an den
Gabelungen unseres Daseins andere Entscheidungen getroffen hätten? Kinder arrangieren sich mit ihrem Leben. Wenn sie ihr liebevolles Zuhause verlassen und sich auf unsicheren Boden bewegen
müssen, dann setzten sie sich Masken auf oder bauen Schutzmauern um sich herum.
Wie man die Tränen
zählt und anschließend trocknet,
kann jeder lernen.
Daher ist jede Hilfe und Unterstützung für sie ein Segen. Vielleicht wird ihnen dadurch ein Weg ermöglicht, damit aus ihnen glückliche Erwachsene werden, die fliegen können.
Mit der Haiku-Sammlung "Zeigerloser Weg" feierte Gastartikelautorin Dagmar Tollwerth ihr öffentliches Debut als Dichterin.
Die Bilder des Artikel stammen von der Künstlerin Yun Nam
und dürfen hier mit freundlicher Genehmigung der Galerie Rasch verwendet werden.