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Computerpoesie - Binäre Perfektion

Die digitale Poesie hat sich seit den ersten künstlerischen Experimenten mit Computern Mitte des 20. Jahrhunderts
zu einem neuem Genre etabliert. Sie erhob sich vom Papier und entdeckte nicht nur ein neues Medium, sondern
auch neue Formen und Möglichkeiten. Patricia Gentner über die Perfektion binärer Gedichte.

Zwischen Zufall und Struktur

In der digitalen Poesie findet eine längst in Vergessenheit geratene oder nur in Avantgarde-Kreisen auffindbare Form eine Renaissance und Weiterentwicklung: Die generative Poesie, Dichtungsgeneratoren oder nun auch Computerpoesie genannt.

Ziel und Vision sind simpel: Den Genius des Lyrikers auf eine Maschine oder ein „unkreatives“ System zu übertragen – also kurz: ein Computerprogramm das Gedichte verfasst!

 

Auf den ersten Blick klingt das äußerst futuristisch oder gar unrealistisch, doch dieser Gedanke wurzelt in der Permutation oder kombinatorischen Dichtung, die bis auf die Antike zurück geht. Gedichte, wie Publilius Optatianus Porfyrius’ „Carmen XXV“, entstanden durch das Verschieben der Wörter eines bestimmten Satzes. Dieser experimentelle und oft als „sinnlos“ bezeichnete Ansatz fand vor allem im 20. Jahrhundert großen Zuspruch. Moderne Dichter und literarische Gruppen nutzen dieses zwischen Zufall und Struktur changierenden System und erweiterten es zu extremen Formen.

Die perfekte Lyrik

Computertechnologien und die digitale Vernetzung haben dieses Genre auf eine neue Ebene gehoben, denn Programme können unzählige Regeln, Algorithmen und Strukturen umsetzen und aus enormen Datenbanken schöpfen. Die Projekte zur künstlichen Intelligenz, wenn sie auch selten dem künstlerischem Anspruch verpflichtet sind, perfektionieren diese Methoden und Konzepte.
Vor allem auch in der Poesie werden diese Möglichkeiten genutzt, um neue Ausdrucksformen zu finden.

Beispielsweise beschäftigt sich ALAMO mit experimentellen und permutativen Gedichten im digitalen Medium. Der Name des Online Generators verrät bereits das Konzept: Die Struktur des Sonetts „Le dormeur du val“ von Rimbaud wird mit dem Wortschatz von Baudelaire’s „Le fleurs du mal“ ausgefüllt. Dies führt zu lesbaren, wenn auch befremdlichen Sonetten, wie hier in: „Le Souvenir du ravin“ (Die Erinnerung der Schlucht):

C'est un cri de madone où brille une morsure
Piétinant tendrement aux âmes des pâtés
D'esprit; où le soleil de la jeunesse pure
Croît: c'est un poudreux ravin qui mousse de côté

Un archer sombre, langue immonde, mèche fraîche
Et la gorge mourant dans le froid buisson bleu
Boit; il est effrayé dans l'âme, sous la brèche,
Sombre, dans son dieu fort où la musique pleut.

Les trous dans les matins, il boit. Un parfum vague
Rêverait un soldat tranquille, il suit la vague:
Musique, chéris-le librement: il est là.

Les désirs ne font pas répéter sa menace;
Il boit dans le sommeil, la mort sur sa grimace,
Tranquille. Il a deux trous vierges au regret plat.

Gedichtgenerator Rimbaudelaire der Gruppe ALAMO

Kollaboration in Endlosschleife

Mehr dem Zufall verpflichtet, ist das Projekt der amerikanischen Künstlerin Nanette Wylde. Dieser Generator greift auf drei Datenbanken zu, die zufällig Zeilen kombinieren. Das Besondere hierbei ist das interaktive Element, denn die Zeilen werden von den Besuchern der Webseite geschrieben. So entsteht ein kollaboratives Gedicht, das die Unbeteiligtheit und das Unverständnis des Computers als Kompositionssystem nutzt. Dabei entstehen Haikus wie dieser:

 

my tea is too hot
oxygen, leaves and branches
death will be divine

Gedichtgenerator haikU

Der gemeinsame Nenner

Zwischen dem Streben nach Perfektion und der systematischen Verfremdung durch Zufallsmomente werfen diese Projekte grundlegende Fragen zum menschlichen, kreativen Prozess. Was passiert, wenn wir Gedichte schreiben? Wenden wir Regeln der Poetik, ästhetische Konzepte und emotionsstarke Wortschätze an, um das „perfekte" Gedicht zu schreiben? Oder versuchen wir Gewohnheiten zu durchbrechen und über Zufall, Intuition und Willkür neue Formen zu finden?
Trotz dem Sakrileg das Genie des Menschen auf eine Maschine zu übertragen, sind letztlich die Fragen und auch die Konzepte hinter der Computerpoesie zutiefst menschlich.

Weitere Projekte zur digitalen, automatisierten Literatur sind in der Online Anthologie „Florigenium“ zu entdecken. Einen historischen und wissenschaftlichen Überblick zur Gattung der Dichtungsgeneratoren bietet Norbert Bachleitner in Netzliteratur.



Patricia Gentner beschäftigt sich seit ihrem Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien besonders mit den digitalen Medien. Im SternenBlick-Team berät sie über die Möglichkeiten im Social Media Bereich

Mehr spannende Themen findet ihr in ihrem Blog PATMIN.



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