Was ist eigentlich Kreativität? Ist sie messbar?
Ein psychologisches Essay von Kevin Hattenberg - Psychologie-Student und Dichter.
Ein psychologischer Essay zur Kreativität
Nahezu jede künstlerische Tätigkeit bedarf der Persönlichkeitseigenschaft der Kreativität. Doch was ist Kreativität? Und wie wird sie überhaupt gemessen? Im Folgenden soll ein psychologischer Versuch unternommen werden, das Konstrukt der Kreativität und seine Grenzen der Erfassung und des Verständnisses näher zu erkunden.
Kreativität und die Alltagspsychologie
Von der Bedeutung des Kreativitätsbegriffs kann sich jeder Mensch eine vage Vorstellung machen. Die Schwierigkeit dabei ist, eine genaue Definition von Kreativität zu finden. Was ist Kreativität? Ist es die Idee? Ist es ein Ergebnis? Oder ist es der Prozess von der Idee zum Ergebnis?
Um diese Frage im alltagspsychologischen Sinne zu beantworten, können wir uns eines häufig angewendeten, aber schwerlich validen Verfahrens bedienen: Wir fragen viele Menschen. Über die Aussagen
ließe sich mit Sicherheit mitteln, Kreativität sei etwas Kreierendes, etwas Gedachtes und/oder gleichermaßen Gefühltes, welches zuerst in einer soweit nicht bekannten oder wenigstens nicht
erwarteten Art und Weise ideell gegeben ist und folglich in eine manifeste Form (z.B. Blogartikel, Schrift auf Papier oder Farbe auf dem Gemälde) überführt wird mit (un)konventionellen Mitteln.
Interessant wäre nun aber die zweite Frage: Wie soll Kreativität erfasst werden? Diese Frage ist ein Beispiel für eine der wichtigsten Grundsatzfragen der Psychologie und soll im weiteren Verlauf
des Essays behandelt werden. Hier genüge uns die Antwort: „Vielleicht ein Bild malen. Vielleicht einen Text schreiben. Jedenfalls etwas Kreatives machen!“ Im Laienverständnis ist die Kreativität
ergo an ein Produkt, das Ergebnis des Kreativitätsprozesses, gebunden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Alltagspsychologie keine hinreichenden Ansprüche an zuverlässige und
valide Ergebnisse hat und sich gerne in die Bequemlichkeit begibt, auch Widersprüchliches existieren zu lassen. Oder simpel zusammengefasst: Sie gibt sich mit Antworten zufrieden, deren Fragen
sie nicht verstanden hat. Um unsere Eingangsfrage beantworten zu können, bedarf es zuerst eines Definitionsversuchs und danach der Entsagung der Alltagspsychologie durch eine Einführung in die
psychologische Forschung.
Versuch einer Definition
Es sei versucht, das Konstrukt der Kreativität mithilfe verschiedener Definitionen besser zu verstehen. Versuch deswegen, weil Definitionen per se nicht erschöpfend sind, sondern mit sparsamer Sorgfalt die Kernelemente eines Konstruktes zu erfassen versuchen.
-Duden: (bildungssprachlich) schöpferische Kraft, kreatives Vermögen
-Mumford, Michael (2003): Kreativität ist allgemein die Fähigkeit, etwas vorher nicht dagewesenes, originelles und beständiges Neues zu kreieren.
-Thomas Werth (1999): Ein Produkt oder eine Idee wird als kreativ akzeptiert, wenn es in einer bestimmten Situation zu einer neuen oder neuartigen Lösung eines sinnvollen Problems führt.
Anhand dieser wenigen Definitionen ist ersichtlich, dass die Forschung allein bei der Definition des Konstruktes Kreativität schon Probleme hat. Ein Grund dafür mag sein, dass Kreativität
größtenteils nicht ohne dazugehörige Theorie und somit aus dem Kontext gelöst definiert werden kann. Dementsprechend soll nun für ein tieferes Verständnis ein Einblick in diesen Kontext
geschaffen werden.
Kreativit - Eine Facette der Intelligenz oder nicht?
Die Implikation der Überschrift mag zunächst etwas befremdlich wirken. Die Alltags-psychologie hätte schon unter Umständen eine Ahnung, dass Kreativität und Intelligenz zusammenhängen. Doch würde sie nicht wissen, inwiefern beide miteinander verbunden sind und welche Aussagen tatsächlich getätigt werden dürfen und welche nicht. Vorangestellt sieht Wechsler (1955) in der Intelligenz „die zusammengesetzte und globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umwelt wirkungsvoll auseinanderzusetzen“. Selbst knapp 50 Jahre später wird die Intelligenz in Hans Grubers „Pädagogische Psychologie“ (2009) ähnlich definiert: „Intelligenz ist die Fähigkeit eines Menschen zur Anpassung an neuartige Bedingungen und zur Lösung neuer Probleme auf der Grundlage vorangehender Erfahrungen im gesellschaftlichen Kontext.
Spezieller formuliert Asendorf (2011), dass „Intelligenz zur effektiven Lösung vorgegebener Probleme mit bekannter Lösung befähigt, während Kreativität die Fähigkeit zu schöpferischen Denken und
Handeln ist: Sie bringt […] originelle Problemlösungen hervor.“ Nach Guilford (1950) stellt Intelligenz konvergentes Denken (Ein Problem und eine Lösung) und Kreativität divergentes Denken (Viele
Problemansichten, viele mögliche Lösungen) dar. Werden nun Asendorfs und Guilfords Aussagen über Intelligenz und Kreativität mit Wechslers und Grubers Definition der Intelligenz verbunden, ist
ersichtlich, dass Kreativität eine Facette der Intelligenz ist, da Kreativität nach diesen Theorien eine Kompetenz zur Problemlösung ist. Wenn also Kreativität eine Fähigkeit ist, viele
Problemansichten und –lösungen in Betracht zu ziehen, so wäre Intelligenz die Helikoptereigenschaft, die über diesen Prozess fliegt und maßgeblich mitbestimmt.
Der kritische Leser mag anmerken, dass Kreativität nun mehr als ein Problemlöseprozess ist, sondern eine innerlich befriedigende Tätigkeit. Dies mag für die Motivation auch stimmen. Jedoch darf
nicht vergessen werden, dass kreative Aktivierung in jedem Fall eine kognitive Leistung darstellt.
Diesbezüglich finden sich interessante, statistische Befunde: Intelligenz und Kreativität korrelieren miteinander. Das heißt, dass sie gemeinsam auftreten und dass mithilfe von Intelligenz
Kreativität vorhergesagt werden kann. So zeigen Emanuel Jauk, Mathias Benedek, Beate Dunst, and Aljoscha C. Neubauer (2013) nach der Schwellentheorie, dass Intelligenz bis zu einem IQ von 120
Kreativität linear vorhersagt und über diesen Wert hinaus keine höhere Kreativität bei noch höherer Intelligenz gefunden wird.
Eine weitere interessante Korrelation besteht zwischen Kreativität und einer der fünf großen Persönlichkeitseigenschaften (Big Five): Offenheit für Neues.
Diese Persönlichkeitseigenschaft ist kulturunabhängig und zeitlich stabil. Offenheit für Neues, das ist wohl eines der im Laienverständnis grundlegendsten Eigenschaften eines Künstlers. Denn als
Künstler ist man offen. Als Künstler probiert man. Als Künstler ist man wohl eher weniger ein konservativer Spießer. Als Künstler ist man ein Freigeist. Doch frei und offen ist man nur, sofern
man sich der engen sozialen Normierung erwehrt. Dies ist dem "komischen Kauz" des Künstlers gängig und bekannt. Dabei korreliert auch Intelligenz mit Offenheit für Neues. Im Künstler vereinen
sich ergo drei Fähigkeiten: Offenheit, Intelligenz und Kreativität.
In der Literatur ist umstritten, ob Kreativität eine Facette der Intelligenz ist oder anders herum. Denkbar wäre auch, dass sich beide Konstrukte überschneiden. Oder dass beide Bestandteile eines
übergeordneten und bisher nicht bezeichneten Konstruktes sind. Jedoch weisen viele Befunde auf die erste Hypothese. Somit ist die erste Frage, wenn auch nicht zu voller Zufriedenheit,
geklärt:
Kreativität ist eine schwer zu definierende Fähigkeit, um Probleme auf der Basis von Persönlichkeitseigenschaften und Intelligenz zu lösen. Dabei kann sie schöpferische Lösungsalternativen zu
multiplen Problemen finden. Die nächste Frage soll im kommenden Abschnitt behandelt werden: Wie wird sie gemessen? Denn bloß ein Konstrukt zu haben, ohne dies messen und zwischen kreativ und
unkreativ trennen zu können, ist nicht aussagekräftig.
Operationalisierung: Vom Konstrukt zum Test
Um diese Frage beantworten zu können, wird nun eine kleine Einführung in das Themengebiet der psychologischen Operationalisierung gegeben. Oben wurde die zweite Frage als eine der Grundfragen der Psychologie dargestellt. Der folgende Abschnitt dient dementsprechend sowohl der Beantwortung dieser Grundfrage als auch der Frage, wie Kreativität gemessen wird. Operationalisierung bedeutet so etwas wie messbar machen. Was ergo versucht wird, ist, ein theoretisches Konstrukt eindeutig zu quantifizieren. Der Leser hat schon häufiger das Wort „Konstrukt“ in diesem Versuch gelesen, hier findet es eine gründlichere Erklärung: Ein Konstrukt ist eine theoretische Größe. Ein Konstrukt selber ist nicht messbar. Der Psychologe betitelt solche Variablen als latent, heißt versteckt, innliegend, nicht sichtbar. In diesem Rahmen heißt es, wir können Kreativität selber nicht messen.
Ein grundlegendes Phänomen des Menschen ist jedoch seine Unzufriedenheit, wenn er keine Antworten erhält. Darum hat er sich ein schlaues Werkzeug geschaffen: Die Operationalisierung. Denn nun
wird mithilfe manifester Variablen auf die latente Variable, das Konstrukt, geschlossen. Die latente Variable findet ihre Manifestation in den manifesten Variablen. Wir können nicht Kreativität
messen, wir können aber durch kreatives Verhalten auf Kreativität schließen. Hier zeigt sich, warum Kreativität schwer zu definieren ist: Wir sind bei der Definition von Kreativität vom kreativen
Verhalten abhängig, und dieses bedarf kreativen Outputs in Form von Ideen oder künstlerischen Werken. In dieser Messbarmachung der Kreativität findet sich die oben erwähnte Problemlösefähigkeit
wieder, denn das kreative Problem ist dann gelöst, wenn es im künstlerischen Sinn einen Prozess von der latenten Idee zur manifesten Form gefunden hat.
Aus der Theorie wurde nun mithilfe der Operationalisierung eine messbare Größe gewonnen. Um also Kreativität zu messen, messen Tests in Abhängigkeit zu den dahinterstehenden Theorien kreatives
Verhalten. Dem Leser ist ersichtlich, dass bei unterschiedlichen Theorien unterschiedliche Tests entstehen. So kann z.B. Intelligenz mit vielen verschiedenen Intelligenztests gemessen werden, die
alle den Anspruch haben, Intelligenz zu messen, wobei sich jedoch verschiedene Theorien hinter den Tests verbergen. Diese Tests können so lange nebenher existieren, bis der fortschreitende
Erkenntnisgewinn der Wissenschaft eine oder mehrere Theorie(n) verwirft und im Sinne des Adaptationsprinzips jene Theorie besteht, welche am anpassungsfähigsten und empirisch ertragsreichsten
ist.
Empirie: Von Daten und Aussagen
„Empirisch ertragreich“, was bedeutet das? Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Psychologe konfus vor sich hin theoretisieren kann. Denn die moderne Psychologie versteht sich als Wissenschaft. Dementsprechend muss sie befreit werden von esoterischen Vorstellungen und nicht haltbaren Torheiten. Dies kann durch die Empirie gewährleistet werden. Denn Empirie ist das systematische Sammeln von Daten. Haben wir eine Theorie, haben wir sogar einen Test, so müssen die Daten unsere Theorie bestätigen. Die Empirie sieht vor, dass vor dem Durchführen eines Tests Hypothesen aufgestellt werden, die dann durch die gesammelten Daten der Testdurchführung statistisch überprüft werden.
Bewährt sich ein Test empirisch, muss er auf seine Güte überprüft werden. Wurde ergo für einen psychologischen Test bewiesen, dass er etwas aussagt, muss folglich erfasst werden, wie gut er etwas
aussagt. Der psychologische Forscher unterscheidet dabei drei interdependente Merkmale: Objektivität, Reliabilität und Validität. Nur wenn ein Test alle drei Merkmale suffizient erfüllt, sollte
er verwendet werden.
Objektivität beschreibt, inwiefern ein (Test)Verfahren objektiv durchgeführt, ausgewertet und interpretiert wurde. Ohne diese Eigenschaft können die Reliabilität und Validität nicht erfüllt
werden. Um ein Verfahren objektiv zu gestalten, bedarf es standardisierter Durchführungs- und Auswertungsprozeduren sowie Vorschriften bezüglich der Interpretation der Testwerte. Jeder Testscore
muss deswegen statistisch standardisiert und in eine Normskala überführt werden. Als Beispiel sei wiederholten Males Intelligenz angeführt, bei deren Tests die Werte auf einen Mittelwert von 100
normiert und Aussagen bezüglich der Werte nur im Hinblick der Abweichung vom Mittelwert getätigt werden.
Reliabilität beschreibt, wie zuverlässig ein Test misst. Wird ein Test zweimal unter sonst gleichbleibenden Bedingungen angewendet, sollte der Test zweimal gleichbleibende Werte liefern. Auch
kann überprüft werden, ob die einzelnen Items überhaupt gleiches erfassen. Beispielsweise kann im Kreativitätstest überprüft werden, ob alle Items miteinander zusammenhängen und in ihrer Gesamt-
und Einzelheit Kreativität erfassen.
Validität beschreibt, inwiefern ein Verfahren überhaupt das Konstrukt erfasst, welches es zu messen intendiert. Um dieses recht ungreifbare Gütekriterium zu messen, kann man das Verfahren mit
anderen Verfahren gleichen Konstruktes miteinander korrelieren. Hängen beide Verfahren miteinander zusammen, messen sie zu großen Anteilen gleiches. Auch kann untersucht werden, ob ein Verfahren
mit dem zu vorhersagenden Kriterium zusammenhängt. Soll ein Verfahren Kreativität erfassen, sollte es mit späterem künstlerischen Erfolg zusammenhängen und möglichst präzise Vorhersagen tätigen
können.
Erfüllt ein Testverfahren diese Gütekriterien, kann es als allgemeines Testverfahren zum Erfassen eines Konstruktes angewendet werden. Nach der vorangegangenen Definitionsannäherung der
Kreativität und Einführung in die psychologische Empirie kann nun die Frage beantwortet werden, wie Kreativität gemessen wird.
Vom greifbar Ungreifbaren
Wie wird Kreativität gemessen? Noch bevor diese Frage beantwortet wird, kann ein interessanter Widerspruch in der Empirie und Intuition über Kreativität gefunden werden: Empirie bedarf der Objektivität, um reliabel und valide zu sein. Somit muss Kreativität nach diesem Ansatz objektiv betrachtet werden, damit zwischen kreativ und unkreativ getrennt werden kann. Ob nun Kunst bzw. Kreativität objektiv betrachtet werden kann, wird in diesem Essay und womöglich in der Zukunft nicht geklärt. Dies kann unter anderem auf die Schwierigkeit einer Definition zurückgeführt werden. Wissen wir nicht, was eine Sache ist, können wir auch nicht wissen, was eine Sache nicht ist. Gesetzt des Falles, Kreativität wäre objektiv erfassbar, ergo in kreativ und unkreativ trennbar, dann könnte ein Testverfahren verwendet werden. Zur Erinnerung: Es gelte somit die Prämisse, Kreativitätstests können objektiv 1) durchgeführt, 2) ausgewertet und 3) interpretiert werden. Eine objektive Durchführung eines Tests ist nicht bedenklich noch kontraintuitiv. Dafür bedarf es bloß konstanter Bedingungen und gleicher Verständnisse der Instruktionen über alle Probanden hinweg. Bei einer objektiven Auswertung kreativer Erzeugnisse, Kunst, mag dem Leser schon sein schwerer Magen auffallen. Die letztendliche objektive Interpretation der Kreativität ist eine Illusion, die sich nur Verfasser von Sekundärliteratur wagen. Wer Zeit seines Lebens Debatten auf Kunstvernissagen hatte, wird wissen, dass Kreativität weit von einer objektiv erfassbaren und auswertbaren Aussage entfernt ist.
Somit sei dem Leser die Überschrift verständlich. Kreativität ist im psychologischen Sinne ein greifbar Ungreifbares. Mit den Werkzeugen der Wissenschaft ist Kreativität kaum beizukommen,
abgesehen von handwerklichen Aspekten des Künstlers. Da Metrik und altmeisterliche Malerei nicht Maß aller Dinge und Beliebtheit sind, muss des Pudels Kern woanders liegen.
Nichtsdestoweniger versucht die Psychologie, Kreativität in gewisser Form greifbar zu machen. Immerhin gibt es Selektionsprozesse an Kunsthochschulen. Gerade in unseren modernen Zeiten, in denen
eine „Kunstinflation“ beobachtet werden kann und jeder Mensch in der Lage ist, kreative Güter zu erstellen und zu publizieren. Z.B. in der Dichtkunst kann dieses Phänomen beobachtet werden. Es
besteht ein nahezu oligopolistisches Verhältnis zwischen Schreibern und Lesern: viele schreiben, wenige lesen. Dazu kommt eine Art Exklusivitätsgemeinschaft, nämlich das Leser tendenziell selber
Schreiber sind und Inspiration und Verständnis suchen. Doch nicht nur hier kann es beobachtet werden. Wer ein wirklich gutes Buch geschrieben hat, der begebe sich auf die tollkühne Suche nach
einem Verlag. Eigenverlage boomen. Selbstproduzierte Musik wird gehört. Jeder Besitzer einer Kamera wird zum Hobbyfotografen. Es gibt also einen realen Bedarf für eine Trennung zwischen kreativ
und unkreativ.
Zeitdruck, Zirkelschluss und Zusatzelemente
Im Definitionsversuch wurde Kreativität als Facette oder wenigstens als bedeutendes Korrelat der Intelligenz dargestellt. Dementsprechend gibt es psychologische Ansätze, Kreativität wie Intelligenz zu messen. Intelligenztests funktionieren nach dem Maximalprinzip: Mit einem gegebenen Kontingent an Zeit ein Maximum an Aufgaben zu bearbeiten. Gleiches gilt für Kreativitätstests. Z.B. müssen Probanden in einem gegebenen Kontingent an Zeit ein Maximum an Assoziationen bilden, was sie nicht alles mit einem Schuhkarton anstellen könnten. Somit gelte, kreativ sei jener, der viele Assoziationen hat. Dem Leser bleibe die Kritik überlassen, ob unter Zeitdruck wirklich kreatives Verhalten gezeigt, noch Kreativität als reine Quantität dargestellt werden kann. Ein gleichermaßen sonderbares Testverfahren erfasst die bisherigen kreativen Erfolge des Probanden auf verschiedenen Gebieten. Der Proband wird gebeten, anzugeben, ob er 1) nicht schreibt, 2) für sich schreibt, 3) lokal erfolgreich schreibt, 4) national erfolgreich schreibt oder 5) international erfolgreich schreibt. Damit wird Kreativität über kreativen Erfolg gemessen. Der Leser bleibe die Kritik überlassen, ob die Erfassung von Kreativität als Zirkelschluss über kreativen Erfolg sinnvoll ist.
Zuletzt existieren auch qualitative Verfahren. Hier zählt nicht nur die reine Menge an produzierten Kreativleistungen eine Rolle, sondern auch ihr Inhalt. Dazu schult man sog. Rater vor der
Durchführung, bestimmte Inhalte als qualitativ hochwertiger einzuschätzen. Dieses Verfahren wird besonders in der malenden Kreativität verwendet. Bei diesem Verfahren werden einige
Anfangsbestandteile gegeben, die der Proband dann durch Zusatzelemente ergänzen soll. Diese Ergänzungen werden dann nach Qualitätsmerkmalen klassifiziert, etwa Perspektive, Linienverbindungen,
neue Elemente, Gefühl und Humor. Am Ende der Auswertung erhält der Proband seinen Testscore und wird dann verglichen mit dem Mittelwert. Dem Leser bleibe die Kritik überlassen, ob vordefinierte
Kriterien tatsächlich Kreativität abbilden.
Vom begreifbar (Un)begreifbaren
Wir haben soeben Verfahren kennengelernt, die trotz des Widerspruchs der wissenschaftlichen Vorgehensweise mit der Subjektivität der Kunst versucht haben, valide zwischen kreativ und unkreativ zu trennen. Es regt sich (hoffentlich) eine gewisse Unzufriedenheit: Bei allem, was wir im Alltag als kreativ und unkreativ bezeichnen, haben wir bis heute nur geringfügige Entfernungen von Daumenschätzungen. Was nun? Ein Charakteristikum der Wissenschaft ist es erfreulicherweise, sich diese Wissenslücken bewusst zu machen und, wenn möglich, gezielt mit Wissen zu füllen. Ob überhaupt jemals Kreativität entschlüsselt wird, hängt von dem Konstrukt und dem Ehrgeiz der nächsten Forschergenerationen ab. Sollte sich dabei herausstellen, dass sich Kreativität per se nicht zufriedenstellend entschlüsseln lässt, ist die Welt um eine weitere, wenn auch ernüchternde, Erkenntnis reicher. Denn dies gilt für Wissenschaft und Kunst: Manchmal ist schon die Erkenntnis, keine Antwort zu finden, eine Antwort.
*Disclaimer: In jedem generischen Maskulinum ist zum Wohle des Leseflusses die feminine Form mitinbegriffen.
**Disclaimer: Ich erhebe keinen Anspruch auf einhundertprozentig wissenschaftliche Korrektheit, sondern versuche vielmehr einen groben Überblick über die
Kreativitätsforschung zu verschaffen.
Literatur
-Mumford, Michael (2003): Where have we been, where are we going? Taking stock in creativity research, in: Creativity Research Journal, 15, S. 107–120.
-McCrae, R. R. (1987). "Creativity, Divergent Thinking, and Openness to Experi-ence". Journal of Personality and Social Psychology 52 (6): 1258–1265.
-O'Hara, L. A. & Sternberg, R. J. (1999). "Creativity and Intelligence". In ed. Sternberg, R. J. Handbook of Creativity. Cambridge University
Press.
-http://users.minet.unijena.de/~schmitzm/kreativesdenken/tagband/weth/weth.pdf [zuletzt aufgerufen am 22.04.2016]
-Gruber, H. & Stamouli, E. (2009). In Wild, E. & Möller, J. (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Heidelberg: Springer.
-Oswald Huber: Das psychologische Experiment. Eine Einführung. Huber, Bern [u. a.] 1987
Der Gastautor Kevin Hattenberg (rechts im Bild) studiert in Kiel Psychologie. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Patrick, hat er den Gedichtband "Hirnherbst" bei SternenBlick veröffentlicht. Die spannenden Hintergründe zum Buch, findet ihr in unserem Blogartikel "Menschwerdung in Versform".